Gewissermaßen im Schatten des
EuGH residiert in Luxemburg noch ein weiterer Gerichtshof, dessen Aufgabe de facto ebenfalls die Auslegung von Gemeinschaftsrecht ist: der
EFTA-Gerichtshof (de jure geht es um die Auslegung von EWR-Recht, das freilich weitgehend in der Übernahme des Gemeinschaftsrechts besteht). Auch der EFTA-Gerichtshof entscheidet daher zB über die Auslegung der Fernsehrichtlinie oder der Richtlinien betreffend elektronische Kommunikationsnetze und -dienste, und zwar wenn EFTA-Staaten, die EWR-Mitglied sind (derzeit Island, Liechtenstein und Norwegen), betroffen sind. Auch vor dem EFTA-Gerichtshof gibt es Vertragsverletzungsverfahren (die von der
EFTA-Überwachungsbehörde eingeleitet werden) und Vorabentscheidungsverfahren (hier nennt man sie "advisory opinions"), genauso wie Untätigkeitsklagen (siehe auch den
Jahresbericht 2008).
Ich habe daher meine
EuGH/EuG-Übersicht zu anhängigen und abgeschlossenen Telekom- bzw. Rundfunksachen auch um den EFTA-Gerichtshof ergänzt. Derzeit ist freilich nur ein für dieses Blog interessanter Fall anhängig: die Untätigkeitsklage des norwegischen Zeitschriftenverbands gegen die EFTA-Überwachungsbehörde wegen staatlicher Beihilfen für Zeitungen (
E-6/09;
Veröffentlichung im Amtsblatt,
Report for the Hearing [nur zur Frage der Zulässigkeit]).
Und auch die einschlägigen abgeschlossenen Verfahren sind nicht gerade zahlreich: so gab es eine Verurteilung Liechtensteins wegen nicht zeitgerechter Umsetzung des Telekom-Rechtsrahmens (
E-5/05 bis E-9/05;
hier das Urteil), schon vor rund 12 Jahren eine wichtige Entscheidung zum Minderjährigenschutz nach Art 22 der
"Fernsehen ohne Grenzen"-Richtlinie (
E-8/97 - TV 1000 Sverige AB) und schon vor 15 Jahren das legendäre Urteil - ebenfalls zur Fernseh-RL - in der Rechtssache
E 8/94 und E 9/94 Forbrukerombudet v Mattel Scandinavia A/S und Lego Norge A/S (
Urteil;
Bericht).
Forbrukerombudet v. Mattel und Lego
In dieser Sache ging es um ein Thema, das den nordischen Verbraucherschützern traditionell besonders wichtig war: um den Schutz der Kinder vor Fernsehwerbung. Wie ernst die Angelegenheit bis in die neunziger Jahre verfolgt wurde, zeigen beispielhaft die
Joint standards for television advertising, auf die sich die Konsumentenombudsleute aus Dänemark, Schweden, Finnland und Norwegen sowie die isländische Konsumentenschutzbehörde 1991 geeinigt haben: demnach sollte zB - zum Schutz der Kinder - Fernsehwerbung (nicht nur an Kinder gerichtete Fernsehwerbung!) vor 20 Uhr generell verboten sein.
Im Binnenmarkt (auch im EWR) konnte sich diese Position bekanntlich auf Dauer nicht halten, denn mit der Fernseh-RL wurde das Prinzip der Rechtsaufsicht durch den Sendestaat festgelegt. Und auch wenn zB Norwegen an Kinder gerichtete Werbung untersagte, war damit nicht mehr zu verhindern, dass Fernsehprogramme aus anderen Mitgliedstaaten mit weniger strengen Werbebeschränkungen auch in Norwegen verbreitet wurden - samt der an Kinder gerichteten Werbung.
Kjersti Graver (
norwegischer und
englischer Eintrag in Wikipedia), von 1987 bis 1995
"Forbrukerombudet" in Norwegen, wollte das allerdings nicht so kampflos hinnehmen. Rechtlich setzte sie bei Unternehmen an, die in Norwegen ansässig waren: sie stellte den Antrag an das zuständige Marktgericht, den norwegischen Tochtergesellschaften der Spielzeugkonzerne
Mattel und
Lego zu untersagen, Werbung in einem auf Norwegen ausgerichteten, aber der Rechtshoheit des Vereinigten Königreichts unterliegenden Satelliten-Fernsehprorgamm zu schalten. Der juristische Umweg nützte nichts, und der EFTA-Gerichtshof kam
in seinem Urteil vom 16.6.1995 zum Ergebnis, dass die Fernsehrichtlinie enem derartigen Verbot entgegensteht.
Kjersti Graver (8. Oktober 1945 – 14. Februar 2009)
Am 14. Februar 2009 - heute vor einem Jahr - starb Kjersti Graver. Ich hatte sie Ende der achtziger Jahre kennen gelernt, als wir beide im Rahmen des sogenannten Oslo-Brüssel-Prozesses der Annäherung von EFTA und EG auf EFTA-Seite in Verbraucherschutzangelegenheiten mitwirkten. Konsequenz und Durchsetzungskraft in der Verfolgung ihrer Anliegen hatte sie schon gut zehn Jahre zuvor bewiesen: als Verbraucher-Aktivistin, noch vor ihrer Ernennung zum Forbrukerombudet, hatte sie erreicht, dass in Norwegen von 1978 bis 1989 Skateboards aus Sicherheitsgründen gänzlich verboten waren - heute fast nicht mehr vorstellbar (der Film
"Brettkontroll" berichtet aus dieser Zeit, in der die Polizei Jagd auf illegale Skater machte, die auf versteckten Rampen im Wald übten; im
YouTube-Clip und auch
in einem Ausschnitt auf der Dagbladet-Website ist auch Kjersti Graver kurz zu sehen und zu hören).
Mit ähnlicher Konsequenz hatte sie bei ihrem Amtsantritt als Forbrukerombudet die geschlechtsneutrale Stellenbezeichnung durchgesetzt: während die vergleichbaren Funktionen bzw Behörden in den anderen nordischen Ländern als "Ombudsman" bezeichnet wurden, suchte sie nicht lange nach einer weiblichen Endung, sondern ließ einfach das "man" weg ( mit "Verbraucher-Ombud" ist diese Funktion übrigens nur unzureichend übersetzt, denn eigentlich handelt es sich um eine unabhängige staatliche Behörde, deren Aufgabe die Durchsetzung von Verbraucherschutzvorschriften ist).
So war es auch nicht wirklich überraschend, dass Kjersti sich bald nach ihrer Ernennung gerade mit Mattel und Lego anlegte. Denn beide Konzerne waren ihr nicht nur wegen der Werbung an sich, sondern besonders wegen ihrer sehr geschlechtsspezifischen Werbung ein Dorn im Auge. (Barbie-Puppen von Mattel; strikt nach Mädchen- oder Buben-Spielzeug unterscheidende Werbespots von Lego). Dass der EFTA-Gerichtshof ihre Position nicht teilen würde, damit hat sie als erfahrene Juristin durchaus gerechnet - aber aufzugeben, bevor sie es nicht zumindest versucht hatte, war für sie keine Option.
Später ist Kjersti übrigens selbst Richterin geworden, am
Borgarting, dem größten norwegischen Berufungsgericht. Mein Kontakt zu ihr riss bald danach ab, und erst vor wenigen Wochen habe ich zufällig von Ihrem Tod erfahren. Dieser Blog-Beitrag ist ihrem Andenken gewidmet.
Labels: EFTA, Graver, Rundfunkrecht, Telekomrecht