Thursday, December 11, 2008

EGMR: gänzliches Verbot politischer Werbung im Fernsehen verstößt gegen Art 10 EMRK

In den meisten westeuropäischen Ländern, darunter zB Deutschland, Frankreich und das Vereinigte Königreich (nicht aber in Österreich), ist bezahlte politische Werbung im Fernsehen verboten. In einem heute verkündeten Urteil ist der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte jedoch zum Ergebnis gekommen, dass ein generelles Verbot politischer Fernsehwerbung, wie es in Norwegen besteht, mit Art 10 EMRK nicht vereinbar ist (TV Vest und Rogaland Pensjonistparti gegen Norwegen, Appl. No. 21132/05).

Die Pensionistenpartei von Rogaland, einer Region im Südwesten Norwegens, die bei Wahlen nicht über 2,3% hinausgekommen war und in der redaktionellen Berichterstattung im Fernsehen praktisch nicht vorkam, hatte bei TV Vest drei politische Spots a 15 Sekunden geschaltet, die sieben Mal täglich während acht Tagen kurz vor den Regionalwahlen gesendet wurden. Die Spots sollten die Werte der Pensionistenpartei darstellen und enthielten auch eine Einladung, diese Partei zu wählen. Wie der EGMR ausdrücklich - in Abgrenzung zum Fall Murphy - festhält, enthielten die Spots keinen Inhalt, durch den die moralischen oder religiösen Überzeugungen der Seher verletzt werden konnten (wörtlich heißt es: "there is nothing to suggest that the adverts included any contents that might be liable to offend intimate personal convictions within the sphere of morals or religion."). Der Rundfunkveranstalter wurde wegen der Ausstrahlung von der Medienbehörde mit einer Geldstrafe (umgerechnet etwa 3800 €) belegt. Die angerufenen nationalen Gerichte hielten die Strafe aufrecht; der Oberste Gerichtshof (der auch Verfassungsgericht ist) setzte sich in seinem Urteil ausführlich mit der Judikatur des EGMR, insbesondere den Fällen VgT und Murphy, auseinander; auch im abweichenden Sondervotum, das vom EGMR noch umfassender als das Urteil zitiert wird, erfolgt eine differenzierte Auseinandersetzung mit Art 10 EMRK.

Der EGMR schlägt sich im Ergebnis auf die Seite der dissenting opinion im nationalen Verfassungsgericht. Außer Streit steht, dass das Verbot politischer Werbung ein Eingriff in die Meinungsäußerungsfreiheit ist, der auch im Gesetz vorgesehen ist und ein legitimes Ziel verfolgt, nämlich den Schutz der Rechte anderer. Strittig war damit nur, ob der Eingriff auch "in einer demokratischen Gesellschaft notwendig" ist. Dabei beziehen sich alle Verfahrensparteien wie auch der EGMR ausführlich auf ein Hintergrundpapier über politische Werbung der EPRA (Europäische Plattform der Regulierungsbehörden), in dem die Situation in 30 europäischen Ländern dargestellt wird. Demnach gibt es in 13 Staaten ein gesetzliches Verbot bezahlter politischer Werbung, in zehn Staaten ist sie erlaubt, in 11 Staaten bestehen auch Regelungen über die Zurverfügungstellung von "airtime" für politische Parteien und Kandidaten während des Wahlkampfs (darunter auch in Staaten, in denen bezahlte politische Werbung verboten ist).

Der EGMR schließt aus dieser Übersicht, dass die Unterschiedlichkeit der Regelungen dafür spricht, einen etwas größeren Beurteilungsspielraum zuzulassen, als er üblicherweise bei Eingriffen in die Freiheit politischer Meinungsäußerung nach Art 10 EMRK anerkannt wird. Der EGMR anerkennt auch die Ziele des Verbots, insbesondere dass nur Fernsehwerbung - wegen des "powerful and pervasive impact" dieses Mediums - verboten ist, dass damit auch die Wahlkampfkosten und die Abhängigkeit der Kandidaten von Spenden begrenzt würden, und dass schließlich auch ein "level playing field" und der Schutz der Integrität des demokratischen Prozesses erreicht werden sollte. Wohlhabende Parteien bzw Kandidaten sollten nicht dadurch einen Vorteil haben, dass sie sich Werbung im wirkungsmächtige Fernsehen leisten können, und außerdem sollte die politische Objektivität des Fernsehens gewahrt werden. Der EGMR dazu: "These are undoubtedly relevant reasons ... However, the Court is not convinced that these objectives were sufficient to justify the interference".

Zunächst war gerade die Pensionistenpartei keine der besonders finanzstarken Parteien, die einen besonderen Vorteil aus der Fernsehwerbung ziehen hätten können - im Gegenteil. Anders als die großen politischen Parteien, die in der redaktionellen Berichterstattung breit vorkamen, war über die Pensionistenpartei fast überhaupt nicht berichtet worden (und wenn, dann überwiegend nur wegen des Verfahrens gerade über die gegenständliche politische Werbung). Auch waren die konkreten Spots nicht geeignet, die Qualität der politischen Debatte zu schmälern, und insbesondere - im Unterschied zum Fall Murphy - "it does not appear that the advertising could give rise to sensitivities as to divisiveness or offensiveness making a relaxation of the prohibition difficult."

Der norwegischen Regierung gelang es damit nicht aufzuzeigen, dass es keine gangbare Alternative zu einem vollständigen Verbot politischer Fernsehwerbung gegeben hätte, sodass ein unverhältnismäßiger Eingriff in das Recht auf freie Meinungsäußerung vorliegt.

In zumindest 13 europäischen Staaten wird man sich nun Gedanken machen müssen, ob die jeweiligen Verbotsregelungen den strengen Verhältnismäßigkeitstest durch den EGMR bestehen können.

PS: Die Hintergrundpapiere der EPRA sind nicht nur für den EGMR ein guterAusgangspunkt, wenn man eine Übersicht über aktuelle Medienregulierungsthemen in Europa will; zuletzt etwa ein kurzes Übersichtsdokument über die Rolle von Regulierungsbehörden bei der Aufsicht über öffentlich-rechtliche Rundfunkveranstalter.
PPS (update 12.12.2008): besonders hinweisen muss ich natürlich auf den Beitrag von Klaus Kassai, Politische Werbung im Fernsehen (hier zu lesen), mit einer umfassenden Analyse der österreichischen Situation.
Noch ein update (14.12.2008): Daithí Mac Síthigh auf Lex Ferenda stellt die Entscheidung im Kontext auch jüngster Entscheidungen von Ofcom (1, 2) und des House of Lords dar, sowie der irischen Situation dar, auch mit Links auf weitere Blogs, die sich mit dem Urteil befassen (OfcomWatch, MediaPal@LSE, Adrian Monck).

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