Tuesday, October 07, 2008

"Abänderung 138": fürchtet Sarkozy die Wahrung der Grundrechte?

Vor der Abstimmung des Europäischen Parlaments (in erster Lesung) über das "Telekom-Paket" vor knapp zwei Wochen hat sich die französiche Regierung eifrig um Unterstützung für ihr Konzept der "Riposte graduée" (abgestufte Antwort) bemüht, nach dem - vereinfacht gesagt - im Falle von wiederholten Verletzungen ("three strikes") der Internet-Zugang gesperrt werden sollte, und zwar ohne Gerichtsentscheidung. Dieses Bemühen ist allerdings - wohl auch auf Grund der Arbeit von Netz-Aktivisten - nach hinten losgegangen, denn die Abgeordneten stimmten schließlich mit großer Mehrheit für eine Abänderung, die sich direkt gegen die französischen Bestrebungen richtet (der vom Parlament angenommene Text ist hier verfügbar). Die mittlerweile schon fast berühmt gewordene "Abänderung 138" soll Art 8 Abs 4 der RahmenRL einen weiteren Unterabsatz hinzufügen; wörtlich würde das dann so lauten:
"(4) Die nationalen Regulierungsbehörden fördern die Interessen der Bürger der Europäischen Union, indem sie unter anderem ...
ga) dem Grundsatz folgen, dass die Grundrechte und Freiheiten der Endnutzer, insbesondere gemäß Artikel 11 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union zur Meinungs- und Informationsfreiheit, keinesfalls ohne vorherige Entscheidung der Justizbehörden eingeschränkt werden dürfen, es sei denn, die öffentliche Sicherheit ist bedroht; in diesem Fall kann die Entscheidung der Justizbehörden im Nachhinein erfolgen."
Allzu aufregend scheint das auf den ersten Blick nicht, denn einerseits hat in diesem Artikel 8 so mancherlei Luftiges Platz, geht es darin doch um "politische Ziele und regulatorische Grundsätze", die zur vollen Wirksamkeit noch weitere konkrete Zuständigkeiten der Regulierungsbehörden voraussetzen. Andererseits ist auch nicht wirklich zu sehen, welches Problem ein Mitgliedstaat damit haben sollte, dass Einschränkungen der Meinungs- und Informationsfreiheit (im Rahmen der Tätigkeit der Regulierungsbehörden) eine gerichtliche Entscheidung erfordern.

Präsident Sarkozy allerdings fühlt sich durch diese Abänderung geradezu provoziert. In einem Brief an Kommissionspräsident Barroso (Näheres dazu auf écrans) hält er es für besonders wichtig ("fondamental"), dass die Abänderung 138 von der Kommission abgelehnt wird, da sie dazu führen könnte, dass die Möglichkeit der Mitgliedstaaten, eine intelligente Strategie (! - Sarkozy meint damit offenbar die von ihm verfolgte "riposte graduée") zur Abschreckung der Piraterie anzuwenden, ausgeschlossen würde.

Die Kommission ist dem mit einer ungewöhnlich raschen und ungewöhnlich deutlichen Reaktion nicht gefolgt. In einer Presseaussendung (derzeit nicht abrufbar, hier ein Scan) machte die Kommission klar, dass sie die überwältigende Mehrheit für diese Abänderung im Parlament als demokratische Entscheidung respektiere. Die Kommission kann die Abänderung auch akzeptieren, zumal es ihrer Ansicht nach ein "restatement" wichtiger Rechtsgrundsätze der EU ist (mit anderen Worten: nichts Neues). Und außerdem ist nun zunächst einmal der Rat am Zug, der im November über das Telekom-Paket beraten wird. Aber offenbar ist Präsient Sarkozy nicht besonders zuversichtlich, dass die zuständigen Minister der anderen Mitgliedstaaten seine Sorge vor der Wahrung der Grundrechte durch die Gerichte teilen.

Hier noch das Video des Pressebriefings zur Antwort der Kommission:

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